Bild: Angela Lamprecht

Paläolithischer Schrein im Anthropozän

Kulttischchen, rot2025        Steinzeug poliert, Gold         
Kulttischchen,grün2025      Steinzeug, Chrom                
Venusfigurinen2025             Steinzeug poliert                  

Galerie beim Feurle  

Der deutsche Philosoph Markus Gabriel nennt Physikalismus, Neurozentrismus und moralischen Nihilismus als die drei grossen und gefährlichen Irrtümer unserer Zeit. Laut Gabriel müssen wir davon ausgehen, dass es mehr gibt als die physikalisch beschreibbare Wirklichkeit, dass unser Geist mehr ist als eine Emergenz unseres Gehirns und dass objektive, moralische Gesetze existieren. Dieser überraschende Ansatz moderner Philosophie erlaubt neue Perspektiven auf Religion, Ethik und Magie. Die bildende Kunst stand wohl seit Menschengedenken in ihren Diensten.

 Für die Galerie beim Feurle berufe ich mich auf älteste Objekte der Menschheitsgeschichte: Kultische Artefakte aus dem Paläolithikum, – der Steinzeit.

Mit Recherche und künstlerischer Intuition rekonstruiere ich bis zu 40.000 Jahre alte Funde. Ich verwende ursprüngliche Materialien, Formen und Techniken und kombiniere sie mit Neuem: materielle Archäologie mit symbolischer, zeitgenössischer Aufladung.

 Die Objekte erwecken den Anschein, als dienten sie dazu, den Austausch mit „dem Anderen“ zu erleichtern und zu ermöglichen, ins Ungleichgewicht geratene Beziehungen mit der immateriellen Welt zu kitten. Stille Zeugen eines verlorenen Kults – oder eines kommenden? Replik oder funktionales Werkzeug? Ich präsentiere die Artefakte als Installation in einem Schrein aus Holz, Glas und Spiegel im Schaufenster neben dem Café Feurstein: Was bedeutet es, in einer Zeit zu leben, in der der Mensch die Biosphäre verändert – im Anthropozän? Woran glauben wir, wer trägt Verantwortung und was hoffen wir?

 Der „Paläloitische Schrein im Antropozän“ ist mehr als historische Referenz: Es geht um den Wunsch nach einer Unio Mystica, einer Verbindung mit allem Lebendigen. Die geformten Relikte sind nicht nur Erinnerungen an ein Damals, sondern Angebote an das Nun: kultisches Werkzeug für die Mitgeschöpflichkeit.

 Historischer Hintergrund

Die Objekte des Schreins sind angelehnt an archäologische, europäische Funde aus dem Neolithikum und dem Paläolithikum. Bei prähistorischen Objekten ohne klare Funktion kann man über den Gebrauch im kultischen Kontext nur spekulieren. Archäologen und Evolutionstheoretiker gehen jedoch im Analogieschluss davon aus, dass die mentalen Logiken der Menschen über die Zeiten und Kulturen hinweg konstant sind. Wir seien die gleichen Menschen wie unsere Vorfahren vor Hunderttausenden von Jahren, unsere Psychologie sei als Anpassung an die prähistorische Umwelt entstanden, und wir trügen sie nach wie vor in uns. - Nur die Welt habe sich radikal verändert.

 Venus Figurinen

Kleine Frauenstatuetten mit ähnlichen Merkmalen wurden über einen unvorstellbar langen Zeitraum hergestellt, über 30 000 Jahre lang. Im Kunstschatz der Menschheit gibt es keine zweite Figur von vergleichbarem Einfluss. Die Frau repräsentiert im Bilderschatz die Kategorie Mensch, vergleichbare ikonische Männerfiguren fehlen bis Christi Geburt (Verhältnis der Funde = 1:100). Vermutlich erfüllten die Figurinen über den langen Zeitraum viele Funktionen. Es ist möglich, dass Weiblichkeit, Feuer und rote Farbe im Paläolithikum als Symbole der Transformation verbunden waren.Wenn an Wiedergeburt geglaubt wird, ist ein weiblicher Körper die Verbindung zur Unendlichkeit.

 Kulttischchen

Diese Objekte des Schreins sind – wie bei einzelnen historischen Funden – in Form von Hunden ausgearbeitet. Die Hunde sind innen hohl, es handelt sich um hermetische Gefässe. Das hermetische Gefäss verweigert sich seiner Funktion, es ist verschlossen. In der Alchemie gilt es als das Behältnis der Gegensätze, es empfängt und nährt die Materie, die verwandelt wird. Die Artefakte können als eine Beschreibung und Beschwörung der Natur mit den Mitteln des Antropozän verstanden werden. Sie tragen anstatt der Einritzung von Spiralen, Dreiecken und Zickzack der neolitischen Funde eine heute gültige, mathematische Formel,

E = m c 2

die den Zusammenhang zwischen Energie (E), Masse (m) und Lichtgeschwindigkeit (c) beschreibt.

Kulttischchen werden von einer Mehrzahl der Forscher als miniaturisierte spirituelle Strukturen gesehen, die einenkultischen Raum im häuslichen Raum erzeugen sollen. Aus ethnoarcheologischer Perspektive werden die Kulttischchen mit Frauen, Feuer und Licht in Zusammenhang gebracht. Die Gebrauchsspuren sprechen für den häuslichen Gebrauch im Alltag. Archäologen wie Naumov 2011gehen davon aus, dass im Inneren bestimmte Geschenke, - jedoch keine Opfer -, abgelegt wurden, die zum Teil auch konsumiert wurden. Das darin abgelegte Material durchlief eine symbolische Transformation. Stellvertreter bestimmter Kategorien wie Nahrung, Menschen, Tiere oder Häuser wurden in einem symbolischen Prozess integriert. In manchen Kulttischchen finden sich sekundäre Feuerspuren, sie wurden vermutlich als Lampen verwendet, wie die Qulliq bei den Inuit.